Theoretische Inhalte der Individualpsychologie nach Alfred Adler
Der Arzt Alfred ADLER (1870-1937), ein Schüler Freuds, gründete 1911 die Individualpsychologie. Adler war bemüht, die individuellen und sozialen Einflüsse auf die Entwicklung eines Menschen und dessen Selbst- und Weltbild zu analysieren. Er sah das Individuum immer in Bezug zur Gemeinschaft und stellte sich die Frage, welchen Sinn der Mensch seinem Leben innerhalb der Gemeinschaft gibt. ADLER (1933, [1]) beobachtete dazu die Bewegungen und den Stil der Ausdrucksweise des Menschen und prägte den vom Soziologen Max WEBER entlehnten Begriff des „Lebensstils“. Dabei legte er besonderen Wert auf die frühen Kindheitserinnerungen, in denen sich der Lebensstil und das Selbstwertgefühl abzeichnen (siehe SCHMIDT, [2]).
In der frühen Kindheitsphase entwickelt der Mensch unter dem Einfluss der Umwelt, aber auch aus eigener schöpferischer Kraft heraus, eine bestimmte Strategie, einen bestimmten Stil (Lebensstil), sich seinen Platz in der Welt zu erobern und dem Selbst einen Wert zu geben.
Die individuell erlebte Geschichte wird laut ADLER in einen, der Weltanschauung gemäßen, lebensstiltypischen Sinnzusammen- hang gebracht, der eng mit dem Selbstwertgefühl in Verbindung steht.
Der Lebensstil bestimmt später beim Erwachsenen seine Empfindungen und Handlungen, z.B. die Wahl des Partners, sein Sexualverhalten, die Berufswahl, der Umgang mit Konsum und Freizeit, Krankheit und Altern und dem Entgegen sehen des Todes. Der Lebensstil ist das Resultat einer Wahl, die durch Werte und Ziele bestimmt wird und ist die einmalige Schöpfung einer Person. Jeder Mensch reagiert gemäß seinem Lebensstil und seinem Selbstwertgefühl auf die gleiche Situation anders (ADLER 1933, ANTOCH 1989, [3]).
Der Individualpsychologe, Heilpädagoge und Schriftsteller Manes SPERBER (1905 – 1984), ein Schüler Adlers, verband die Psychologie mit der Soziologie und Politik, setzte sich für die Mitverantwortung des einzelnen, des Individuums in der Gemeinschaft ein (SPERBER, 1934, [4]). In seinen Romanen schrieb er „gegen das Vergessen und für das Erinnern, gegen Bewusstlosigkeit und für historisches Bewusstsein,... er wollte erinnern“ (Rudolf ISLER,[5]).
Die Verknüpfung von Erinnerungsfähigkeit und Verantwortungsgefühl fasste der Religionsphilosoph Martin BUBER (1878 – 1965), der das ethische Verständnis von SPERBER und ADLER beeinflusst hatte, in den drei Fragen der Weisen folgendermaßen zusammen (BUBER, 1947, [6]):
„Wisse, woher Du kamst,
wohin Du gehst und
vor wem Du Dich zu verantworten hast“.
Die DGIP [7] fasst die wesentlichen Inhalte der Individualpsychologie folgendermaßen zusammen:
„Individualpsychologie geht von einem ganzheitlichen Verständnis der bewussten und unbewussten Handlungs- und Erlebnisweisen aus. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt der Beziehungsgestaltung durch den Einzelnen im sozialen Feld unter besonderer Berücksichtigung von Affekten, intrapsychischen Konflikten und Strukturen.“
Geschichtliche Entwicklung
Die Individualpsychologie ist 1911 aus der Auseinandersetzung Alfred Adlers mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds hervorgegangen. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden die individualpsychologischen Institute und Arbeitskreise verboten. Alfred Adler konnte, wie Freud und einige seiner Schüler, sich vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten in die Emigration retten.
In den USA gewann die Methode Adlers viel Zulauf. In der Bundesrepublik bildeten sich nach dem Krieg zuerst kleine Arbeitsgruppen zur Individualpsychologie, die sich 1962 mit der Gründung der Alfred-Adler-Gesellschaft (AAG) zusammenfanden [8]. 1970 benannte sich die AAG in die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) um. Aus diesen Kreisen entwickelten sich dann in den achtziger Jahren Ausbildungsinstitute.
Seit 1984 ist die Psychoanalyse nach Adler gemäß den psychotherapeutischen Richtlinien der Psychoanalyse nach Freud und Jung gleichgestellt und als kassenärztliche Leistung abrechenbar. 1991 wurde die DGIP in den Dachverband der DGPT aufgenommen.
Es gibt mittlerweile sechs Alfred-Adler-Institute (Köln, Berlin, Delmenhorst, Düsseldorf, Mainz, München) und acht Landesverbände (Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen- Rheinland-Pfalz, Niederachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein).
Die Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie (www.dgip.de) stellt heute einen Zusammenschluss von Ärzten, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeitern und Vertretern vieler anderer Berufsgruppen dar. Sie dient der Verbreitung, Vertiefung und Weiterentwicklung der von Alfred ADLER begründeten Individualpsychologie. Die DGIP fördert psychologische und pädagogische Initiativen, die mit Individualpsychologie in Zusammenhang stehen. Insbesondere dient sie der Anwendung individualpsychologischer Methoden und Erkenntnisse in tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie und in tiefenpsychologischer Beratung.
Literaturverzeichnis
[1] Alfred ADLER: „Der Sinn des Lebens“, (1933b, Psychologie Fischer Verlag 1973a): „Die Meinung des Individuums vom Sinn des Lebens ist die Richtschnur für sein Denken, Fühlen und Handeln“ (S. 32). „Wie das Individuum sich zur Gemeinschaft...und zu seinen Lebensproblemen...stellt, verrät seinen Lebensstil“ (S.37, 38).
[2] Rainer SCHMIDT: „Die Individualpsychologie Alfred Adlers“ (Psychologie Fischer Verlag 1989, S.101): Zitat ADLER: „Was das Gedächtnis von den zahllosen Ereignissen der frühen Kindheit auswählt, um es zu behalten, steht gewöhnlich im Dienst der Sicherung des Selbstwertgefühls, entsprechend einer sich gerade bildenden subjektiven Einschätzung, Wertung und Meinung von sich, den Mitmenschen und dem Leben.“
[3] Rainer F. ANTOCH: „Von der Kommunikation zur Kooperation“ ( Psychologie Fischer Verlag, 1989).
[4] Manes SPERBER: „Individuum und Gemeinschaft, Versuch einer sozialen Charakterologie“ (1934, Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch, 1981, Leitsatz siehe S.9).
[5] Rudolf ISLER: „Manes Sperber – ad acta?“ in Zeitschrift für Individualpsychologie, 26. Jg., S. 158 (2001).
[6] Martin BUBER im Buch:„Der Weg des Menschen“ (1947; L.Schneider/Gütersloher Verlagshaus 1999, 13. Aufl., S. 13).
[7] 1996 formulierte die DGIP dieses Selbstverständnis der Individualpsychologie (IP).
[8] Siehe Almuth BRUDER-BEZZEL „Die Geschichte der Individualpsychologie“, Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1991.
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